Sachverhalt
Der Jungbullen-Fall ist schnell erzählt: Dieb D stahl dem Landwirt Theodor zwei Rinder („Jungbullen“) und verkaufte sie für 1.701,- DM an den gutgläubigen Wurstfabrikanten Wilhelm. Dieser ging davon aus, dass D rechtmäßiger Eigentümer der Tiere sei. Daraufhin verwertete Wilhelm die zwei Jungbullen in seiner Fleischwarenfabrik. Theodor verlangte nun von Wilhelm Schadens- bzw. Wertersatz, insbesondere weil D mittellos war.
Entscheidung
Das Landgericht Bielefeld und auch das Oberlandesgericht Hamm verurteilten Wilhelm in erster und zweiter Instanz antragsgemäß zur Zahlung von Wertersatz i.H.v. 1.701,- DM an Theodor gemäß §§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB.
Die Revision von Wilhelm verwarf der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 11. Januar 1971 (Az. VIII ZR 261/69; BGHZ 55, 176). Zunächst wurde festgestellt, dass Wilhelm durch die Verarbeitung der Jungbullen kraft Gesetzes nach § 950 Abs. 1 S. 1 BGB Eigentümer der neu hergestellten Wurstwaren geworden war. Ein gutgläubiger Eigentumserwerb aufgrund der Einigung mit D gemäß §§ 929 S. 1, 932 Abs. 1 S. 1 BGB war nicht möglich, da die Rinder gestohlen waren (§ 935 Abs. 1 S. 1 BGB).
Aufgrund des Rechtsverlustes nach § 950 BGB stehe Theodor ein bereicherungsrechtlicher Entschädigungsanspruch zu nach §§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 ff. BGB, dessen Voraussetzungen auch erfüllt seien. Dem Anspruch stehe nicht entgegen, dass zwischen Theodor und Wilhelm ein Eigentümer-Besitzer-Verhältnis (§§ 987 ff. BGB) bestand. Denn dessen grundsätzliche Sperrwirkung für deliktische und bereicherungsrechtliche Ansprüche würde § 951 Abs. 1 S. 1 BGB nicht erfassen, sodass über die dort normierte Rechtsgrundverweisung das Bereicherungsrecht anwendbar sei.
Vorliegend würde es sich um eine Nichtleistungskondiktion in Form einer Eingriffskondiktion handeln gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB. Wilhelm habe von Theodor zwei Rinder ohne dessen Leistung und ohne rechtlichen Grund erlangt. Der Kaufvertrag zwischen Wilhelm und D entfalte aufgrund der Relativität der Schuldverhältnisse keine Rechtswirkung gegenüber Theodor. Zudem sei § 950 BGB kein tauglicher Rechtsgrund. Schließlich sei Wilhelm aufgrund der Zahlung an D auch nicht entreichert nach § 818 Abs. 3 BGB, da ihn das Argument der Kaufpreiszahlung auch nicht von seiner Herausgabepflicht im Rahmen des § 985 BGB befreit hätte. § 951 BGB sei hierzu also ein Rechtsfortwirkungsanspruch.
Anmerkungen
Der Jungbullen-Fall ist ein Klassiker des Zivilrechts. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen sehr einfachen Fall zu handeln. Dieser Eindruck täuscht jedoch gewaltig. Aufgrund der Kombination von Sachenrecht und Bereicherungsrecht handelt es sich um einen Fall mit mehreren Problemfeldern. Der Bundesgerichtshof hat zum einen klargestellt, dass das Bereicherungsrecht über § 951 BGB „offen gehalten“ wird, auch wenn dieses eigentlich aufgrund des Bestehens einer Vindikationslage im Rahmen eines Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses gesperrt ist. Zum anderen tritt der Bereicherungsanspruch an die Stelle des Herausgabeanspruchs nach § 985 BGB, sodass § 951 BGB als Rechtsfortwirkungsanspruch anzusehen ist. Wenn also das Argument der Kaufpreiszahlung schon nicht im Rahmen des Herausgabeanspruchs verfängt, muss dies erst recht auch im Rahmen von § 951 BGB und damit folglich auch bei § 818 BGB gelten.
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Lösungsskizze
Wertersatz gem. §§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
- Anwendbarkeit
- Problem: Sperrwirkung des EBV, § 993 BGB (i.E. -)
- Voraussetzungen § 951 BGB
- Rechtsverlust des Theodor nach § 950 Abs. 1 BGB (+)
- Rechtsgrundverweisung in die §§ 812 ff. BGB
- Voraussetzungen § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
- Wilhelm hat etwas erlangt (+)
- In sonstiger Weise
- Kein Vorrang der Leistungsbeziehung zwischen Wilhelm und D (+)
- Auf Kosten des Theodor (+)
- Ohne rechtlichen Grund
- Kaufvertrag mit D unerheblich, § 950 ist kein Rechtsgrund (+)
- Problem: Rechtsfolgen, § 818 BGB
- Entreicherung nach § 818 Abs. 3 BGB? Nach Vergleich mit § 985 BGB, i.E. (-)
- Ergebnis (+)