Sachverhalt
Am 2. November 1963 begab sich die damals 14 Jahre alte Edith gemeinsam mit ihrer Mutter in eine SB-Supermarktfiliale der Beklagten. Als ihre Mutter am Ende des Einkaufes an der Kasse anstand, ging Edith um die Kasse herum zur Packablage, um ihrer Mutter beim Einpacken zu helfen. Dabei stürzte sie zu Boden und erlitt einen schmerzhaften Bluterguss am rechten Knie, der stationär behandelt werden musste und einen operativen Eingriff zur Folge hatte.
Da sich die Beklagte weigerte für die Folgen des Sturzereignisses finanziell aufzukommen, erhob Edith am 5. März 1970 Klage auf Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 10.000 DM. Zudem beantragte sie festzustellen, dass die Beklagte zum Ersatz des durch den Unfall entstandenen und noch zukünftig entstehenden Vermögensschadens verpflichtet sei (Verdienstausfall und Behandlungskosten). Dieser belief sich zum Zeitpunkt der Klageeinreichung auf 701,51 DM. Zur Begründung führte Edith an, dass sie auf einem auf dem Boden liegenden Gemüseblatt ausgerutscht und deshalb zu Boden gestürzt sei. Die Beklagte habe damit ihre Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt.
Die Beklagte bestritt dies. Selbst wenn das Sturzereignis tatsächlich auf ein Gemüseblatt zurückzuführen sei, könne sie, die Beklagte, hierfür nicht haftbar gemacht werden. Im Übrigen seien alle in Betracht kommenden Ansprüche bereits verjährt.
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Entscheidung
Das Landgericht Trier hat die Klage von Edith in erster Instanz wegen Verjährung abgewiesen.
Auf die Berufung von Edith hat das Oberlandesgericht Koblenz mit Teilurteil vom 18. Oktober 1972 zwar den Schmerzensgeldanspruch ebenfalls wegen Verjährung rechtskräftig abgewiesen. Mit Schlussurteil vom 28. August 1974 hat ihr der 1. Zivilsenat jedoch den geltend gemachten Vermögensschaden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von 1/4 in Höhe von somit insgesamt 497,11 DM nebst dem Zukunftsschaden zugesprochen.
Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass er das Sturzereignis aufgrund eines am Boden liegenden Gemüseblattes für erwiesen erachtet. Damit habe die Beklagte eine ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt, die sowohl im Rahmen einer unerlaubten Handlung als auch bei einem vorvertraglichen Schuldverhältnis (culpa in contrahendo, kurz c.i.c., heute § 311 Abs. 2 BGB) einen Schadensersatzanspruch auslöse. Ein solcher Anspruch ergebe sich außerdem unter dem Gesichtspunkt des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, da Ediths Mutter während des Sturzereignisses zumindest „Vertragsverhandlungen“ mit der Beklagten bzw. einer Vertreterin geführt habe, sodass Edith als Hilfsperson mit in dieses vorvertragliche Schuldverhältnis einbezogen werden könne.
Der Bundesgerichtshof wies die Revision der Beklagten mit Urteil vom 28. Januar 1976 (Az. VIII ZR 246/74; BGHZ 66, 51) vollumfänglich zurück. Zur Begründung führte der VIII. Senat aus, dass der Schadensersatzanspruch zwar nicht aus einer vorvertraglichen Pflichtverletzung der Beklagten gegenüber Edith resultiere, da diese selbst keine Kaufabsicht gehabt habe, sondern nur ihre Mutter begleitet habe. Allerdings bestünde vorliegend zwischen Ediths Mutter und der Beklagten ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, in das Edith mit einbezogen werden könne. Denn wenn Ediths Mutter auf dieselbe Weise wie ihre Tochter zu Schaden gekommen wäre, würde die Beklagte wegen der Verletzung einer vorvertraglichen Nebenpflicht voll haften.
Aufgrund des „engen familienrechtlichen Bandes“ zwischen Edith und ihrer Mutter, die erkennbar für das „Wohl und Wehe“ ihrer Tochter verantwortlich sei, könne Edith in das vorvertragliche Schuldverhältnis zwischen ihrer Mutter und der Beklagten mit einbezogen werden und einen eigenen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten geltend machen. Dass zum Zeitpunkt des Sturzereignisses zwischen Ediths Mutter und der Beklagten nur ein vorvertragliches Schuldverhältnis bestand, sei für die Einbeziehung von Edith vollkommen irrelevant, da die schuldrechtliche Haftung ansonsten „vom reinen Zufall“ abhängig gemacht werden würde.
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Anmerkungen
Der Gemüseblatt-Fall oder auch Salatblatt-Fall ist ein weiterer Klassiker im Zivilrecht. Die Thematik des Vertrages bzw. vorvertraglichen Schuldverhältnisses mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung und sollte mit Blick auf das Examen unbedingt sicher beherrscht werden. Der BGH hat in der vorliegenden Entscheidung erstmals ausdrücklich festgestellt, dass auch vorvertragliche Schuldverhältnisse eine Schutzwirkung zugunsten Dritter entfalten können und dies erst jüngst wieder in einer Entscheidung aus dem Jahr 2022 (Az. VI ZR 1283/20) bestätigt, was zeigt, dass die Thematik nach wie vor sehr aktuell ist. Zur optimalen Vorbereitung und schnellen Wiederholung empfehle ich Dir in diesem Zusammenhang den Crashkurs Schuldrecht AT, in dem Du einen perfekten Überblick über die Grundlagen des allgemeinen Schuldrechts bekommst.
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Lösungsskizze
A. Schadensersatzanspruch von Edith, §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB
- Vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen Edith und Beklagten
- Problem: keine Kaufabsicht von Edith (-)
- Ergebnis (-)
B. Schadensersatzanspruch von Edith, §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB i.V.m. den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter
- Vorvertragliches Schuldverhältnis zwischen Mutter und Beklagten (+)
- Voraussetzungen der Einbeziehung in den Schutzbereich
- Leistungsnähe von Edith (+)
- Gläubigernähe von Edith („enges familienrechtliche Band“ +)
- Erkennbarkeit für die Beklagte (+)
- Schutzbedürftigkeit von Edith (+)
- Pflichtverletzung der Beklagten (Verkehrssicherungspflicht, +)
- Verschulden (keine Exkulpation, +)
- Schaden
- Aber: Mitverschulden von Edith i.H.v. 1/4 nach § 254 Abs. 1 BGB
- Ergebnis (+)