Sachverhalt
In der umstrittenen Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG geht es um die Zulässigkeit von Rudolf-Heß-Gedenkmärschen. Der NPD-Politiker und Rechtsanwalt Jürgen Rieger meldete im Jahr 2001 eine entsprechende Kundgebung zum Gedenken an Rudolf Heß in der bayerischen Stadt Wunsiedel an, wo sich dessen Grab befand. Rudolf Heß war ein führendes Mitglied der NSDAP, Reichsminister unter Adolf Hitler und genießt bis heute eine enorme Popularität in der Neonazi-Szene. Die Kundgebung sollte jährlich stattfinden und war zunächst bis zum Jahr 2010 geplant.
Nachdem das Landratsamt Wunsiedel die Versammlung zunächst untersagte, hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Verbot im Beschwerdeverfahren wieder auf. Zur Begründung führte der Senat aus, dass von dem Gedenkmarsch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gemäß § 15 Abs. 1 VersG ausgehe. Die Kundgebung fand daraufhin wie geplant statt und es kamen knapp 1.000 Menschen. Im Jahr 2002 stieg die Teilnehmerzahl auf etwa 3.000 Menschen, im Jahr 2003 auf rund 4.000 Menschen und im Jahr 2004 schließlich auf fast 5.000 Menschen.
Der Deutsche Bundestag beschloss daraufhin im März 2005 den Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB um den folgenden Absatz 4 zu erweitern:
„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“
Daraufhin verbot das Landratsamt Wunsiedel die bereits für August 2005 angemeldete Kundgebung unter dem Motto „Seine Ehre galt ihm mehr als die Freiheit“ mit Bescheid vom 29. Juni 2005 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung. Rieger versuchte zunächst im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gerichtlich dagegen vorzugehen, scheiterte jedoch in allen Instanzen, sodass die Veranstaltung nicht stattfand.
Wenige Tage nach dem geplanten Veranstaltungstermin erhob Rieger in der Hauptsache Klage zum Verwaltungsgericht Bayreuth mit dem Antrag festzustellen, dass der Verbotsbescheid des Landratsamts Wunsiedel rechtswidrig war.
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Entscheidung
Das Verwaltungsgericht Bayreuth wies die Feststellungsklage mit Urteil vom 9. Mai 2006 ab, da der Verbotsbescheid rechtlich nicht zu beanstanden sei. Die hiergegen eingelegte Berufung Riegers zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof blieb mit Urteil vom 26. März 2007 ebenso ohne Erfolg, wie die anschließende Revision zum Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2008.
Noch bevor das Bundesverfassungsgericht über seine Verfassungsbeschwerde entscheiden konnte, verstarb Rieger plötzlich am 29. Oktober 2009 infolge eines Schlaganfalls. Der Erste Senat nahm seine Verfassungsbeschwerde dennoch zur Entscheidung an, da diese grundsätzlich auch die Funktion hätten, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden. In der Sache wies das BVerfG die Beschwerde jedoch mit Beschluss vom 4. November 2009 zurück (Az. 1 BvR 2150/08; BVerfGE 124, 300).
Zur Begründung führte der Erste Senat aus, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zwar grundsätzlich sogar die Verbreitung von nationalsozialistischem Gedankengut als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung umfasse. Allerdings sei der Eingriff in Gestalt des Verbotsbescheids verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Auch wenn es sich bei § 130 Abs. 4 StGB nicht um ein allgemeines Gesetz gemäß Art. 5 Abs. 2 Alt. 1 GG handele, da sich dieses gegen eine bestimmte Meinung richte, konkret der Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, könne dieses Sonderrecht ausnahmsweise einen Eingriff in die Meinungsfreiheit rechtfertigen. Dies folge aus dem Unrecht und Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft und der daraus folgenden Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland.
§ 130 Abs. 4 StGB sei auch verhältnismäßig, da mit dem Schutz des öffentlichen Friedens ein legitimer Zweck verfolgt werde. Die Ausgestaltung der Vorschrift sei auch geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Da es kein milderes Mittel gebe, sei die Vorschrift auch erforderlich. Schließlich schaffe § 130 Abs. 4 StGB einen angemessenen Ausgleich zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz des öffentlichen Friedens, sodass die Vorschrift auch angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne sei.
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Anmerkungen
Mit der Wunsiedel-Entscheidung sorgte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2009 gleich für zwei Paukenschläge: zum einen begründeten die Richter fast beiläufig, dass Verfassungsbeschwerden auch eine objektive Bedeutung hätten, sodass der Tod der Beschwerdeführer einer Entscheidung nicht entgegenstehen würde. Zum anderen stellte der Erste Senat klar, dass entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 GG auch nicht-allgemeine Gesetze die Meinungsfreiheit zum Schutz des öffentlichen Friedens einschränken könnten. Diese Entscheidung wurde teilweise scharf als unzulässiges „Sonderrecht gegen Neonazis“ und als Angriff auf die Meinungsfreiheit kritisiert.
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Lösungsskizze
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
- Zuständigkeit (+)
- Problem: Beschwerdeberechtigung
- Auch nach dem Tod des Beschwerdeführers aufgrund der objektiven Bedeutung (+)
- Beschwerdegegenstand (+)
- Beschwerdebefugnis (+)
- Form und Frist (+)
- Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität (+)
- Ergebnis (+)
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
- Problem: Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
- Auch NS-Gedankengut unterfällt dem Schutzbereich (+)
- Eingriff (+)
- Problem: Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
- Generelle Einschränkbarkeit („Schranke“)
- Ausnahmsweise auch durch ein nicht-allgemeines Gesetz (§ 130 Abs. 4 StGB) aufgrund der NS-Vergangenheit und der Verantwortung Deutschlands (+)
- Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes (Urteil des BVerwG) (+)
- Ergebnis (-)