Sachverhalt
Die damals 19-jährige A lernte den Rockerclub-Präsidenten M im Jahre 1983 kennen. Obwohl M von Anfang an gewalttätig war, heiratete A ihn wenige Jahre später. Nach der Geburt der ersten Tochter J wurden die Angriffe brutaler. M schlug und trat A nunmehr auch ins Gesicht und in den Bauch, sobald etwas seinen Vorstellungen nicht entsprach. Als A mit der zweiten Tochter T schwanger war, hielt dies M nicht davon ab, A weiterhin in den Bauch zu schlagen und zu treten. T kam mit einer Lippen-Gaumen-Spalte zur Welt. Die Gewaltausbrüche wurden schließlich so schlimm, dass A im Mai 1988 in ein Frauenhaus flüchtete. Allerdings kehrte sie bereits 4 Wochen später wieder zu M zurück, da dieser versprach, sich zu bessern.
Im Jahr 1993 wurde M wieder gewalttätig: einmal trat er mit seinen Springerstiefeln auf die am Boden liegende A ein, sodass diese eine Nierenquetschung erlitt. Ein anderes Mal schlug er ihren Kopf mehrfach derart gegen die Wand, dass diese großflächig mit Blut verschmiert war und A bewusstlos zu Boden fiel.
Nachdem beide ein Haus im baden-württembergischen Zollernalbkreis bezogen hatten, wurden die Angriffe noch brutaler und fanden häufiger statt. M schlug A jetzt auch mit einem Baseballschläger oder anderen Gegenständen. An Weihnachten im Jahr 2000 zwang er sie in Anwesenheit seiner Rockerkollegen, sich vor ihm hinzuknien und ihm nachzusprechen, sie sei eine „Schlampe“ und der „letzte Dreck“. Nachdem sich M wenige Monate später als Gastwirt selbstständig gemacht hatte, begann er auch seine Töchter J und T zu schlagen, wenn sie sich seiner Meinung nach falsch verhielten.
Im Oktober 2001 eskalierte die Situation vollkommen: M trat mit seinen Springerstiefeln mindestens 10 Mal auf die am Boden liegende A ein, kniete sich auf sie und schlug ihr mit den Fäusten ins Gesicht. Danach verließ er das Haus und kam erst in der Nacht gegen 3:30 Uhr wieder zurück. Bevor er sich schlafen legte, beleidigte er A und spuckte und schlug ihr erneut ins Gesicht, sodass diese aus dem Mund blutete.
Gegen 9:00 Uhr stieß A beim Aufräumen auf einen Revolver, den sich M illegal besorgt hatte. A ließ ihre Situation Revue passieren. Eine Trennung von M hielt sie – auch mit staatlicher Hilfe – für aussichtslos, da M für diesen Fall bereits gedroht hatte, dass er und seine Rockerkollegen sie und die beiden Töchter finden und ihnen etwas antun würden. A glaubte auch, dass sie den Gewalttätigkeiten bald nicht mehr Stand halten könne und auch ihre Töchter J und T nicht mehr vor M schützen könne.
A sah daher keine andere Lösungsmöglichkeit, als M mithilfe des Revolvers zu töten. Sie ging sodann ins Schlafzimmer und feuerte aus einer Entfernung von 60 cm den gesamten Trommelinhalt des Revolvers auf den noch schlafenden M. Von den acht Kugeln trafen zwei und töteten M.
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Entscheidung
Das Landgericht Hechingen befand A mit Urteil vom 11. Juli 2002 wegen heimtückischen Mordes an M gemäß § 211 StGB für schuldig. Zur Begründung führte die 1. Schwurgerichtskammer aus, dass A die Arg- und Wehrlosigkeit von M in feindlicher Willensrichtung bewusst zur Tötung ausgenutzt habe. Die Tat sei auch nicht durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gewesen. Weitere Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe prüfte die Kammer nicht, sondern wendete stattdessen direkt die sog. Rechtsfolgenlösung des BGH an. Danach kann bei einem heimtückischen Mord bei Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“ der absolute Strafrahmen ausnahmsweise gemäß § 49 Abs. 1 S. 1 StGB gemildert werden, wenn die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe unverhältnismäßig erscheint. Das Gericht verurteilte A deshalb lediglich zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren.
Auf die Revision von A hob der Bundesgerichtshof die Entscheidung des Landgerichts Hechingen mit Urteil vom 25. März 2003 (Az. 1 StR 483/02; BGHSt 48, 255) mit Ausnahme der Sachverhaltsfeststellungen auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurück. Der 1. Strafsenat sparte nicht mit Kritik und machte deutlich, dass die Kammer vor der Anwendung der Rechtsfolgenlösung zwingend hätte prüfen müssen, ob nicht ein entschuldigender Notstand gemäß § 35 StGB vorgelegen habe oder ob sich A über dessen Voraussetzungen – unvermeidbar oder vermeidbar – geirrt habe. Denn in den ersten beiden Fällen käme ein Freispruch in Betracht und bei einem vermeidbaren Irrtum wäre die Strafe schon obligatorisch nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu mildern gewesen, ohne dass es eines Rückgriffs auf die Rechtsfolgenlösung bedurft hätte.
Die bisher von der Schwurgerichtskammer getroffenen Feststellungen würden nahelegen, dass eine gegenwärtige Gefahr für die körperliche Unversehrtheit von A bestand. Dabei sei unerheblich, dass M zum Tatzeitpunkt schlief, da auch Dauergefahren von § 35 StGB erfasst seien. Die Gewalttätigkeiten von M würden schon seit etwa 15 Jahren andauern und hätten sich kurz vor der Tat noch gesteigert. A habe die von M ausgehende Gefahr auch weder durch ihr Ausharren „selbst verursacht“, noch sei sie zur Hinnahme aufgrund des Eheverhältnisses verpflichtet gewesen. Fraglich sei jedoch, ob die Gefahr nicht durch die Inanspruchnahme von staatlicher Hilfe hätte abgewendet werden können. Denn dies sei bei einer von einem “Familientyrannen” ausgehenden Dauergefahr regelmäßig der Fall – und nicht dessen Tötung.
Im Juli 2003 wurde A schließlich von einer anderen Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hechingen erneut wegen heimtückischen Mordes an M verurteilt, dieses Mal jedoch nur zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten gemäß §§ 211 Abs. 2, 2. Gruppe, Alt. 2, 35 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB.
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Anmerkungen
Der Haustyrannen-Fall ist ein moderner Strafrechtsklassiker, der seinerzeit für kontroverse Diskussionen gesorgt hat. Die Sachverhaltsfeststellungen des Landgerichts Hechingen sind nur schwer zu lesen und lassen doch nur ansatzweise erahnen, welchem gewalttätigen Martyrium die Angeklagte jahrzehntelang ausgesetzt gewesen sein muss. Dies ist auch der einzige Grund für die vergleichsweise milde Strafe. Juristisch ist der Fall vor allem deshalb interessant, weil der Bundesgerichtshof nicht nur deutlich gemacht hat, dass sämtliche Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe vor der Anwendung der Rechtsfolgenlösung zu prüfen sind, sondern auch dass § 35 StGB Dauergefahren erfasst.
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Lösungsskizze
Strafbarkeit von A wegen Mordes an M gemäß § 211 Alt. 2, 2. Gruppe, Alt. 2 StGB
- Tatbestand
- Tötung eines Menschen (+)
- Mordmerkmal der Heimtücke (+)
- Vorsatz (+)
- Problem: Rechtswidrigkeit
- Notwehr gemäß § 32 StGB
- Keine gegenwärtige Gefahr (-)
- Notstand gemäß § 34 StGB
- Keine Abwägung Leben gegen Leben (-)
- Problem: Schuld
- Entschuldigender Notstand gemäß § 35 Abs. 1 StGB
- Gefahr wurde selbst verursacht oder war zumutbar? (-)
- Gefahr war anders abwendbar? (+)
- Vermeidbarkeit gemäß § 35 Abs. 2 StGB (+)
- Ergebnis: Milderung nach §§ 35 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB