Sachverhalt
Anfang 2010 erschütterte die Festnahme des prominenten ARD-Wettermoderators Jörg Kachelmann die Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft Mannheim warf ihm vor, in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2010 eine seiner damaligen Geliebten, die Radiomoderatorin Claudia D., unter Zuhilfenahme eines Messers in ihrer Wohnung vergewaltigt zu haben. Zuvor soll es einen heftigen Streit wegen eines Briefes mit den Worten „Er schläft mit ihr“ gegeben haben, den Claudia D. anonym erhalten habe. Dem Brief seien zwei Flugtickets beigefügt gewesen, die auf Kachelmann und Isabella M. ausgestellt gewesen seien. Kachelmann bestätigte zwar, dass es an jenem Abend zu einem Streit gekommen sei. Allerdings sei der Sex einvernehmlich gewesen und habe zeitlich vor der Auseinandersetzung stattgefunden.
Der zuständige Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Mannheim glaubte Kachelmann jedoch nicht und gab dem Haftbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft statt. Das Gericht bejahte einen dringenden Tatverdacht gemäß § 112 StPO aufgrund der Aussage von Claudia D. vom 9. Februar 2010 und eines Kurzgutachtens des Rechtsmedizinischen Instituts des Universitätsklinikums Heidelberg. Als Haftgrund wurde Fluchtgefahr angenommen gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, da Kachelmann in Deutschland keinen festen Wohnsitz hatte und über Grundvermögen in der Schweiz und in Kanada verfügte.
Die Versuche von Kachelmanns Verteidigerteam gegen den Haftbefehl vorzugehen blieben zunächst erfolglos. Daher zogen sie weitere Sachverständige hinzu. Die Rechtsmediziner Prof. Dr. Brinkmann und Prof. Dr. Rothschild kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass die bei Claudia D. vorgefundenen Verletzungen mit dem von ihr behaupteten Geschehensablauf nicht in Einklang zu bringen seien. Das Verteidigerteam fand außerdem heraus, dass Claudia D. und Isabella M. schon seit längerer Zeit über Facebook Kontakt hatten. Daraufhin ließ die Staatsanwaltschaft den Laptop von Claudia D. sicherstellen und beauftragte Prof. Dr. Greuel mit der Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens.
Claudia D. musste schließlich gegenüber den ermittelnden Staatsanwälten einräumen, in einigen Punkten gelogen zu haben. So habe sie die Flugtickets bereits Mitte 2009 erhalten und den Brief „Er schläft mit ihr“, der überhaupt erst den Streit ausgelöst hat und nach ihrer Behauptung der Ausgangspunkt der Vergewaltigung gewesen sein soll, selbst geschrieben. Auch auf dem angeblich bei der Tat verwendeten Messer konnten keine Fingerabdrücke von Kachelmann festgestellt werden.
Am 19. Mai 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Mannheim gleichwohl Anklage gegen Jörg Kachelmann wegen Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 177 Abs. 4 Nr. 1 Alt. 2, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, 52 Abs. 1 StGB a.F.
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Entscheidung
Am 9. Juli 2010 ließ die für das Verfahren zuständige 5. Große Strafkammer des Landgerichts Mannheim die Anklage unverändert zu und eröffnete das Hauptverfahren. Claudia D. schloss sich dem Verfahren als Nebenklägerin an.
Am 29. Juli 2010 und damit nur wenige Tage später gab das Oberlandesgericht Karlsruhe der Haftbeschwerde von Jörg Kachelmann dagegen statt und hob den Haftbefehl mit sofortiger Wirkung auf (Az. 3 Ws 255/10). Zur Begründung führte der 3. Strafsenat aus, dass ein dringender Tatverdacht nicht mehr vorliege. Es handele sich um eine klassische „Aussage gegen Aussage“ Situation. Bei Claudia D. könnten Bestrafungs- und Falschbelastungsmotive nicht ausgeschlossen werden. Zudem habe sie unzutreffende Angaben gemacht. Hinsichtlich ihrer Verletzungen könne eine Selbstbeibringung nicht ausgeschlossen werden. Kachelmann konnte die JVA Mannheim daraufhin nach 130 Tagen Untersuchungshaft verlassen.
Am 6. September 2010 begann die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Mannheim. Äußerst ungewöhnlich war, dass nicht zunächst Claudia D. als unmittelbare Tatzeugin vernommen wurde, sondern stattdessen eine Vielzahl ehemaliger Geliebten Kachelmanns, die sich teilweise zuvor bereits in Boulevard-Medien öffentlich zu Wort gemeldet hatten. Insgesamt wurde der Prozess von einem riesigen Medienaufgebot begleitet und es wurde ausführlich über Kachelmanns Privatleben berichtet. Ende November 2010 trennte sich Kachelmann überraschend von seinem bisherigen Verteidiger Reinhard Birkenstock und verpflichtet stattdessen den Hamburger Strafverteidiger Johann Schwenn.
Das Landgericht Mannheim sprach Jörg Kachelmann schließlich mit Urteil vom 31. Mai 2011 unter dem Jubel der Saalöffentlichkeit in allen Anklagepunkten frei (Az. 5 KLs 404 Js 3608/10). In der mündlichen Urteilsbegründung führte der Vorsitzende Richter Michael Seidling jedoch aus:
„Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann und damit im Gegenzug von einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin überzeugt ist. Es bestehen aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Zweifel an der Schuld von Herrn Kachelmann. Er war deshalb nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ freizusprechen.“
Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Claudia D. legten zunächst Revision ein. Nachdem die schriftliche Urteilsbegründung vorlag, zogen sie diese jedoch wieder zurück.
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Anmerkungen
Der Strafprozess gegen Jörg Kachelmann ging als sog. Kachelmann-Prozess in die jüngere Rechtsgeschichte ein. Obwohl es sich dabei im Grunde um einen recht einfach gelagerten Fall handelte, zog sich das Verfahren über ein Jahr. Am Ende wurden an 44 Verhandlungstagen 30 Zeugen und 10 Gutachter vernommen. Der Prozess wurde zum monatelangen Medienspektakel, was insbesondere der enormen Bekanntheit des Angeklagten und der Schwere des Tatvorwurfs geschuldet war, der im krassen Gegensatz zu dem bis dahin sehr lockeren und eher biederen Image von Kachelmann stand. Während „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ den Prozess kritisch begleiteten und auf viele Widersprüche und Ungereimtheiten hinwiesen, engagierte die „BILD“-Zeitung die bekannte Feministin Alice Schwarzer als „Prozess-Kolumnistin“.
Kritisiert wurde im Rahmen des Kachelmann-Prozesses viel: die Polizei, die Staatsanwaltschaft, das Gericht, die Betroffenen und die Medien. Auffällig ist in der Tat, dass die Staatsanwaltschaft Mannheim bereits im Ermittlungsverfahren sämtliche zugunsten von Kachelmann sprechenden Umstände ausgeblendet und damit entgegen von § 160 Abs. 2 StPO nicht als „objektivste Behörde der Welt“ agiert hat. Ein Rätsel bleibt ebenfalls, aus welchem Grund das Gericht die extensive Vernehmung von Kachelmanns Ex-Geliebten gleich zu Prozessbeginn angeordnet hat, da diese zum eigentlichen Tatgeschehen keinerlei Angaben machen konnten. Unzulässig und überdies auch unwürdig war dagegen das „Nachtreten“ des Gerichts in der mündlichen Urteilsbegründung, wohlwissend, dass es hiergegen keinerlei Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe gibt.
Der Kachelmann-Prozess zog eine ganze Reihe weiterer Straf- und Zivilverfahren nach sich. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 28. September 2016 (Az. 18 U 5/14), mit dem Claudia D. zur Zahlung von mehr als 7000 EUR Schadensersatz an Jörg Kachelmann verurteilt wurde. Zur Begründung führte der 18. Zivilsenat aus, dass er nach der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt sei, dass Claudia D. Jörg Kachelmann damals „vorsätzlich wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt“ habe. Das Urteil ist rechtskräftig.