Sachverhalt
Am Morgen des 5. Oktobers 2021 postete der Sänger Gil Ofarim ein Video auf Instagram, welches das Leben eines unschuldigen Menschen vollständig auf den Kopf stellte und zugleich den Auftakt einer mehr als 2-jährigen Lügengeschichte bildete. Der Fall wurde begleitet von einem beispiellosen Medienspektakel und sorgte für eine bundesweite Debatte über Antisemitismus. Zugleich handelt es sich um ein Lehrstück über öffentliche Empörungsbildung und grottenschlechte Verteidigungsstrategien.
Der Sänger Gil Ofarim wollte am Abend des 4. Oktobers 2021 in das Luxushotel „The Westin“ in Leipzig einchecken. Aufgrund von IT-Problemen kam es beim Check-In jedoch zu längeren Wartezeiten. Als Ofarim an der Reihe war, eskalierte die Situation. Der Hotelmanager Markus W. wird später aussagen, dass Ofarim sich wild gestikulierend darüber aufgeregt habe, dass andere Gäste bevorzugt behandelt worden seien. Er habe gedroht, in seinem Hotelzimmer ein Video über das „Scheißhotel“ zu machen, dass „viral“ gehen werde. Daraufhin habe sich W. entschlossen, Ofarim den Check-In zu verweigern.
Ofarim verließ darauf die Hotellobby, setzte sich vor dem Hotel auf den Bürgersteig und nahm ein Video mit gewaltiger Sprengkraft auf: Darin warf er W. vor, ihm den Check-In wegen seines jüdischen Glaubens verweigert zu haben. Wörtlich sagte Ofarim, der in dem Video eine gut sichtbare Halskette mit einem Davidstern-Anhänger trug:
„Ich bin jetzt gerade hier in Leipzig. In einem Hotel namens ‚Westin‘. Den Namen des Managers am Counter werde ich jetzt nicht nennen. Es war ein Herr W. Und es ist eine Riesen-Schlange, weil deren Computer down ist. Kann passieren, alles gut. Kann passieren. Aber ich stehe hier mit meiner Kette. Steht mir zu. Mach ich schon mein Leben lang. Und eine Person nach der anderen wird vorgezogen. Und ich verstehe nicht warum. Irgendwie, ohne Scheiß, 15 Minuten später komme ich dran und frage: ‚Entschuldigen Sie bitte, was ist los? Es ist nicht in Ordnung. Warum werden alle vorgezogen?‘ Da sagt er, dieser Herr W.: ‚Um die Schlange zu entzerren.‘ Ich steh auch in der Schlange. Und dann ruft irgendeiner aus der Ecke: ‚Pack Dein Stern ein.‘ Und dann sagt der Herr W.: ‚Packen Sie Ihren Stern ein.‘ Und dann sagt er, wenn ich den jetzt einpacke, darf ich einchecken.“
Anschließend verbrachte Ofarim die Nacht in einem anderen Hotel und veröffentlichte am nächsten Morgen das aufgenommene Video. Und dieses sollte seine enorme Wirkung nicht verfehlen. Wie von Ofarim prophezeit, ging das Video „viral“ und sorgte für einen Sturm der Entrüstung. Das „The Westin“-Hotel wurde von Demonstranten belagert und musste unter Polizeischutz gestellt werden. Im Internet folgte ein gewaltiger Shitstorm und es hagelte massenweise negative Bewertungen und Stornierungen. Markus W. wurde beurlaubt und erhielt Morddrohungen. Ofarim dagegen erfuhr eine Welle der Solidarität: viele Prominente und Politiker ergriffen sofort Partei für den Sänger, der seine Lügengeschichte in der Folge in unzähligen Medien weiterverbreitete.
Lerntipp👍
Entscheidung
Die Staatsanwaltschaft Leipzig ermittelte zunächst gegen den von Ofarim beschuldigten Hotelmanager Markus W. wegen Beleidigung, versuchter Nötigung, Volksverhetzung und falscher Verdächtigung (§§ 130, 164, 185, 240, 22, 23, 52 StGB). Mehrere Zeugen konnten die von Ofarim erhobenen Vorwürfe jedoch nicht bestätigen. Kurze Zeit nach dem Vorfall wurden zudem die Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Hotellobby veröffentlicht. Darauf war die von Ofarim in seinem Video getragene Kette nicht zu erkennen. Ofarim korrigierte daraufhin seine Aussage, wonach es gar nicht um die Kette ging, sondern darum, dass er antisemitisch beleidigt worden sei.
Am 31. März 2022 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen W. schließlich mangels hinreichenden Tatverdachts ein (§ 170 II StPO). Die Schilderungen von Ofarim zum Geschehensablauf hätten sich nicht bestätigt. Die Beschwerdefrist ließ Ofarim verstreichen, sodass die Entscheidung rechtskräftig wurde.
Am selben Tag erhob die Staatsanwaltschaft jedoch Anklage gegen Ofarim wegen falscher Verdächtigung in zwei Fällen, davon einmal in Tateinheit mit Verleumdung (§§ 164, 187, 194, 52, 53 StGB). Es bestehe ein hinreichender Tatverdacht, dass Ofarim sowohl im Rahmen des Videos als auch gegenüber der Polizei wahrheitswidrig behauptet habe, dass Markus W. ihn aufgefordert habe „seinen Stern wegzupacken“, damit er einchecken könne. Wegen der besonderen Bedeutung des Falls erfolgte die Anklage zum Landgericht (§ 24 I 1 Nr. 3 GVG). Ofarims Verteidigung sah darin allerdings einen angeblich „öffentlichkeitswirksamen Schauprozess“ und stellte Befangenheitsanträge.
Die 6. Große Strafkammer des Landgerichts Leipzig zeigte sich davon unbeeindruckt und ließ die Anklage mit Beschluss vom 15. September 2022 unverändert zur Hauptverhandlung zu (Az. 6 KLs 607 Js 56884/21). Markus W. schloss sich dem Verfahren als Nebenkläger an. Zudem wurde bekannt, dass gegen Ofarim eine weitere Anklage wegen falscher Versicherung an Eides Statt in zwei Fällen erhoben wurde, davon einmal in Tateinheit mit Betrug und einmal in Tateinheit mit versuchten Betrugs (§§ 156, 263, 22, 23, 52, 53 StGB, Az. 8 KLs 607 Js 21623/22). Ofarims vierköpfiges Verteidigerteam warf dem Gericht „juristische Taschenspielertricks“ vor und stellte weitere Befangenheitsanträge, u.a. „wegen Bloßstellung in der Öffentlichkeit“. Das Oberlandesgericht Dresden verwarf diese jedoch mit Beschluss vom 14. Oktober 2022 als unzulässig (Az. 1 Ws 238/22). Eine Verfassungsbeschwerde Ofarims ist noch anhängig (Az. 2 BvR 1930/22). Die Anregung der 6. Großen Strafkammer, einen Täter-Opfer-Ausgleich zu versuchen, lehnte Ofarims Verteidigung kategorisch ab.
Am 7. November 2023 begann schließlich die mündliche Verhandlung vor dem Landgericht Leipzig, die von einem enormen Medienaufgebot begleitet wurde. Ofarims Verteidiger gingen weiterhin äußerst konfrontativ vor: von Besetzungsrügen über ellenlange Statements bis hin zu aggressiven Befragungen von Markus W. und Zeugen ließen die Verteidiger keine Gelegenheit aus, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Am 28. November 2023, dem 6. Verhandlungstag, sagte Ofarim die folgenden 4 Sätze, mit denen seine Lügengeschichte und die Verteidigerstrategie wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrachen:
„Die Vorwürfe treffen zu. Ich möchte mich entschuldigen. Es tut mir leid. Ich habe das Video gelöscht.“
Das Gericht stellte daraufhin das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gegen Zahlung eines Geldbetrages i.H.v. 10.000 EUR zugunsten der Jüdischen Gemeinde zu Leipzig und dem Trägerverein des Hauses der Wannseekonferenz als „symbolische Abhilfe für den nicht unerheblichen Schaden für den Kampf gegen Antisemitismus” vorläufig ein (§ 153a StPO). Zudem verpflichtete sich Ofarim zur Zahlung von Schmerzensgeld an Markus W. in unbekannter Höhe.
Lerntipp👍
Anmerkungen
Der Fall ist ein Lehrstück über öffentliche Empörungsbildung und unterirdische Verteidigungsstrategien. Kurz nachdem Ofarim das Video gepostet hatte, solidarisierten sich unzählige Menschen mit ihm, darunter auch viele Prominente und Politiker. Der Fall schien klar: im ohnehin „braunen“ Sachsen werden Menschen jüdischen Glaubens jetzt sogar schon in Luxushotels ganz offen antisemitisch beleidigt. Erst die Veröffentlichung der Überwachungsbilder führte der Öffentlichkeit vor Augen, dass es vielleicht doch besser ist, zunächst den Ausgang der Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft abzuwarten – eigentlich eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit.
Vor allem aber ist es dem vierköpfigen (!) Verteidigerteam mit ihrer Konfrontationsverteidigung zu verdanken, dass der aus strafrechtlicher Sicht für sich genommen recht unbedeutende Fall derart öffentlich und juristisch eskaliert ist. Eine gute Verteidigung hätte frühstmöglich versucht, den Fall und insbesondere die Berichterstattung möglichst klein zu halten und außergerichtlich zu erledigen. Spätestens mit Einstellung der Ermittlungen gegen W. (wogegen bezeichnenderweise kein Rechtsmittel eingelegt wurde) und der Anklageerhebung gegen Ofarim hätte der Verteidigung eigentlich klar sein müssen, dass sie mit dem Festhalten an ihrer Strategie und Ofarims Version juristisch keinen Blumentopf mehr gewinnen können.
Aber anstatt sich kooperativ zu verhalten, haben die Verteidiger noch einen Gang hochgeschaltet und Ofarim mit ihrer Konfliktverteidigung (vier Befangenheitsanträge und eine Verfassungsbeschwerde sprechen für sich) einen Bärendienst erwiesen. Einzig dem Vorsitzenden Richter Dr. Andreas Stadler dürfte Ofarim zu verdanken haben, dass er zumindest juristisch am Ende noch mit einem blauen Auge davon gekommen ist. Den juristischen „Erfolg“ der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO hätte er aber wohl auch schon im Ermittlungsverfahren erzielen können, ohne seinen Ruf durch die massive Prozessberichterstattung bis auf Weiteres vollständig zu ruinieren.
Wenn Du mehr über die Hintergründe von Strafprozessen sowie über unser Strafprozessrecht wissen möchtest, legen wir Dir unseren Crashkurs StPO ans Herz. Hier lernst Du in nur 4,5 Stunden alles, was Du zur Strafprozessordnung wissen musst – natürlich und examens- und praxisrelevanten Gesichtspunkten.