Sachverhalt
Das auf die Herstellung von Säuglings- und Kindernahrung spezialisierte Unternehmen Milupa brachte gegen Ende der 1970er Jahre einen zuckerhaltigen Kindertee in kleinen Nuckelflaschen für Babys und Kleinkinder auf den deutschen Markt. Den Tee stellte Milupa selbst her; die Nuckelflaschen stammten von einem anderen Hersteller.
Im September 1981 warnte Prof. Dr. med. dent. Willi-Eckhard Wetzel, Direktor der Poliklinik für Kinderzahnheilkunde an der Universität Gießen, in einem Fachaufsatz in der Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift vor einer neuen Form von Milchzahnkaries. Dieser sei auf das Dauernuckeln und die damit einhergehende permanente Umspülung der Zähne mit den zuckerhaltigen Kindertees zurückzuführen (sog. Nursing-Bottle-Syndrom).
Daraufhin änderte Milupa im November 1981 den Banderolentext auf den Nuckelflaschen:
“Die Zubereitung ist einfach und schnell. Für Säuglinge: In das Fläschchen 50 ml (ccm) frisch abgekochtes warmes Wasser geben – 1 Teelöffel Milupa Kindertee einstreuen – schütteln – fertig! Flasche selbst halten und nicht dem Kind als Nuckelfläschchen überlassen; häufiges oder andauerndes Umspülen der Zähne, z. B. vor dem Einschlafen, kann Karies verursachen.”
Außerdem veröffentliche Milupa eine Informationsbroschüre (“Mütter fragen – Milupa antwortet”) und gab im Dezember 1981 ein Merkblatt über den Zuckergehalt heraus. Im Januar 1982 versendete Milupa im Rahmen einer normalen Kundenaktion einen Eltern-Informations-Brief, in dem auf die Beachtung der Trinkgewohnheiten zur Verhütung von Karies hingewiesen wurde.
Im Jahr 1985 mussten dem damals 5-jährigen Kläger zwei Schneidezähne und wenig später noch weitere Zähne aufgrund von Kariesbefall gezogen werden, nachdem er in den Jahren 1979 bis 1983 mehrmals täglich größere Mengen des Kindertees von Milupa getrunken hatte.
Er verklagte Milupa auf Schadensersatz und Schmerzensgeld und behauptete, die bei ihm aufgetretenen Kariesschäden seien auf eine schädliche Zusammensetzung der Kindestees zurückzuführen. Milupa habe die ihr obliegende Produktbeobachtungspflicht verletzt und es unterlassen, die von ihr vertriebenen Produkte mit geeigneten Warnhinweisen zu versehen.
Entscheidung
Das Landgericht Frankfurt wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers hob das Oberlandesgericht Frankfurt die Entscheidung mit Urteil vom 13. November 1990 (Az. 11 U 44/90) auf und verurteilte Milupa zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes gemäß § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 847 BGB a.F. (heute § 253 Abs. 2 BGB).
Zur Begründung führte der 11. Zivilsenat aus, dass Milupa nach Inverkehrbringen ihres Kindertees die ihr obliegende Instruktions- und Produktbeobachtungspflicht verletzt habe. Spätestens nach Kenntnisnahme der Untersuchungsergebnisse von Prof. Wetzel im September 1981 hätte Milupa vor der Kariesgefahr ihrer Kindertees aufgrund des Dauernuckelns warnen müssen. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Der bloße Hinweis auf eine mögliche Kariesgefahr in den geänderten Banderolentexten sei zum einen im Fließtext versteckt gewesen. Zum anderen fehle es an der erforderlichen Deutlichkeit vor der Kariesgefahr, etwa durch eine besondere graphische Gestaltung oder ein Symbol. Dies gelte auch für die Broschüre “Mütter fragen – Milupa antwortet” sowie für das Merkblatt über den Zuckergehalt und den Eltern-Informations-Brief.
Die Revision der Parteien wies der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 12. November 1991 zurück (Az. VI ZR 7/91, BGHZ 116, 60) und bestätigte damit die Entscheidung der Frankfurter Richter. Der VI. Zivilsenat stellte zunächst klar, dass Milupa ihre aus der Instruktions- und Produktbeobachtungspflicht resultierende Warnpflicht verletzt habe.
Zwar sei das Dauernuckeln ein klarer Produktfehlgebrauch. Dieser sei jedoch naheliegend, weshalb Milupa ihre Produktbenutzer davor ausdrücklich hätte warnen müssen, was jedoch nicht erfolgt sei. Die von Milupa vorgenommenen Maßnahmen seien unzureichend gewesen. Insbesondere mit dem Produkt bereits vertraute Benutzer hätten keinerlei Veranlassung gehabt, in der Zubereitungsanleitung nach neuen Warnhinweisen Ausschau zu halten.
Darüber hinaus habe Milupa auch schuldhaft gehandelt, da für sie eine der Instruktions- und Produktbeobachtungspflicht vorgelagerte Prüfpflicht bestanden habe, die sie zumindest fahrlässig verletzt habe. Da Milupa den von ihr selbst produzierten Kindertee mit zugekauften Nuckelflaschen zu einem neuen Produkt kombiniert habe, hätte sie vor dem Vertrieb zwingend selbst prüfen müssen, ob von dem Produkt irgendwelche Gefahren ausgehen, ganz gleich ob bei bestimmungsmäßigem oder naheliegendem Fehlgebrauch. Dies sei jedoch nicht erfolgt.
Anmerkungen
Das Milupa-Urteil ist ein Klassiker des Deliktsrechts, da der Bundesgerichtshof das Produkthaftungsrecht zum Schutz der Produktbenutzer deutlich verschärft hat. Hersteller müssen ihre Produkte vor dem Inverkehrbringen selbst auf potentielle Gefahren prüfen und ihre Warnhinweise optisch derart auffällig gestalten, dass diese leicht warnehmbar sind.
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