Sachverhalt
Am 27. September 2002 entführte der Jurastudent Magnus Gäfgen den 11-jährigen Bankierssohn Jakob von Metzler (Foto) und forderte in einem anonymen Erpresserschreiben von der Familie ein Lösegeld i.H.v. 1 Million EUR. Gäfgen kannte Jakob von Metzler und dessen Schwester und wollte mit dem Geld seinen luxuriösen Lebensstil finanzieren.
Der damalige stellvertretende Polizeipräsident Wolfgang Daschner (Foto) leitete die Ermittlungen. Diese konzentrierten sich darauf, das Leben von Jakob zu schützen und seine schnelle Freilassung zu erreichen. Der von Gäfgen angefertigte Erpresserbrief gab den Ermittlern berechtigten Anlass zur Hoffnung, dass Jakob noch lebte, da dessen Freilassung nach der Lösegeldzahlung versprochen worden war.
Nach der Lösegeldübergabe fanden die Ermittler schnell heraus, dass Gäfgen hinter der Entführung steckte. Unklar war jedoch, ob es noch weitere Täter gab. Nachdem Gäfgen festgenommen worden war, behauptete er zunächst, nichts mit der Entführung zu tun zu haben. Ein Unbekannter habe ihm 20.000 EUR angeboten, wenn er das Lösegeld abhole. Auf Fragen nach dem Verbleib von Jakob gab er ausweichende Antworten und verhielt sich abwehrend und distanziert. Im weiteren Verlauf kreuzte Gäfgen auf einem Zettel an, dass sich Jakob unter „Bewachung/Aufsicht“ befinde und gab als Aufenthaltsort eine Hütte am Langener Waldsee an, deren Standort und weitere Umgebung er nur vage beschrieb.
Nach Ansicht des Polizeipsychologen machte Gäfgen bewusst keine zielführenden Angaben, um Zeit zu gewinnen. Die Ermittler befürchteten, dass Jakob von Gäfgen eingesperrt worden war und sich in einer lebensbedrohlichen Lage befand. Als eine Sondereinheit am 1. Oktober 2002 am Langener Waldsee einen Kinderschlafsack mit rötlichen Anhaftungen fand, wies Daschner den Kriminalkommissar E. an, Gäfgen erneut zum Aufenthaltsort von Jakob zu befragen, an sein Gewissen zu appellieren und auf die akute Lebensgefahr von Jakob hinzuweisen. Für den Fall der weiteren Weigerung sollte Gäfgen durch E. angedroht werden, unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen, jedoch ohne Verursachung von Verletzungen, erneut befragt zu werden.
E. folgte der Anweisung Daschners, da auch er das Leben von Jakob unbedingt retten wollte. Gäfgen war durch die Drohung derart beeindruckt, dass er E. den wahren Aufenthaltsort von Jakob mitteilte. Als die Beamten am Birsteiner See eintrafen, mussten sie jedoch feststellen, dass Jakob nicht mehr lebte. Gäfgen hatte ihn bereits am Entführungstag in seiner Wohnung erstickt.
Da Daschner selbst einen Aktenvermerk über seine Anweisung an E. anfertigte, nahm die Staatsanwaltschaft Frankfurt Ermittlungen gegen ihn und E. auf.
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Entscheidung
Das Landgericht Frankfurt befand Daschner mit Urteil vom 20. Dezember 2004 (Az. 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04); NJW 2005, 692) wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Nötigung im Amt sowie E. wegen Nötigung für schuldig. Beide wurden verwarnt und das Gericht behielt sich die Verurteilung zu einer Geldstrafe – 90 Tagessätze zu je 120 EUR für Daschner sowie 60 Tagessätze zu je 60 EUR für E. – vor. Das Gericht blieb damit im untersten Bereich der möglichen strafrechtlichen Sanktionen.
Die 27. Große Strafkammer sah es als erwiesen an, dass Daschner E. angewiesen habe, Gäfgen Schmerzen anzudrohen, um den Aufenthaltsort von Jakob erfahren und diesen zu retten. E. habe die Weisung dann in die Tat umgesetzt, wodurch Gäfgen den wahren Aufenthaltsort von Jakob offenbart habe. Beide Angeklagten hätten genau gewusst, was sie getan hätten.
Die Kammer machte deutlich, dass eine solche Verletzung der Menschenwürde durch nichts zu rechtfertigten sei. Weder die polizeilichen Vorschriften des Hessischen Gesetzes für Sicherheit und Ordnung (HSOG), noch die allgemeine Schutzpflicht des Staates würden es zulassen, einem Beschuldigten Schmerzen anzudrohen, um so eine Aussage zu erzwingen. Auch eine Notwehr nach § 32 StGB oder ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB kämen ebenso wenig in Betracht wie mögliche Entschuldigungsgründe. Keiner der Angeklagten könne sich auf einen Verbotsirrtum nach § 17 StGB berufen. Beide seien erfahrene Beamte gewesen, welche die entsprechenden Normen des Polizeirechts und des § 136a StPO (verbotene Vernehmungsmethoden) gekannt hätten. Ein entschuldigender Notstand nach § 35 StGB habe mangels notwendigem Näheverhältnis nicht vorgelegen. Ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand sei aufgrund einer unlösbaren Pflichtenkollision ausgeschlossen. Niemand dürfe zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden – auch nicht ein Kindermörder.
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Anmerkungen
Der Daschner-Prozess löste eine kontroverse Debatte über die Zulässigkeit von staatlicher Gewaltandrohung aus und spaltete die Öffentlichkeit in zwei Lager: die Befürworter von Daschners Weisung und deren Gegner. Während einerseits vor einem drohenden Polizeistaat gewarnt wurde, wurde andererseits auf die Menschenwürde von Jakob verwiesen, die nicht geringer sei, als die Menschenwürde von Gäfgen.
Auffällig an dem Urteil des Landgerichts Frankfurt ist, dass die 27. Große Strafkammer zwar beide Angeklagte für schuldig befunden hat, die Verurteilung zu Geldstrafen jedoch vorbehalten wurde. Damit hat die Kammer einerseits klargestellt, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist und bereits die Androhung von Folter nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG unzulässig ist, andererseits wurden die Beweggründe der Angeklagten, das Leben von Jakob zu retten, erheblich strafmildernd berücksichtigt.
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Lösungsskizze
A. Strafbarkeit von E. gem. § 240 Abs. 1 StGB
- Tatbestand
- Drohung mit empfindlichem Übel (+)
- Nötigungserfolg (+)
- Vorsatz (+)
- Problem: Rechtswidrigkeit
- Allgemeine Rechtfertigungsgründe
- Polizeiliche Vorschriften des HSOG (-)
- Allgemeine Schutzpflicht des Staates (-)
- Notwehr gem. § 32 StGB (Drohungsmittel ist weder erforderlich, noch geboten -)
- Notstand gem. § 34 StGB (Drohungsmittel ist unangemessen und verstößt gegen Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG -)
- Verwerflichkeit der Nötigung, § 240 Abs. 2 StGB (+)
- Problem: Schuld
- Verbotsirrtum gem. § 17 StGB (-)
- Entschuldigender Notstand gem. § 35 StGB (kein Näheverhältnis -)
- Übergesetzlich entschuldigender Notstand (-)
- Ergebnis (+)
B. Strafbarkeit von Daschner gem. §§ 357 Abs. 1, 240 Abs. 1 StGB
- Tatbestand
- Vorgesetzter i.S.d. § 357 Abs. 1 StGB (+)
- Rechtswidrige Tat im Amt (+)
- Nötigung gem. § 240 Abs. 1 StGB durch E. (+)
- Amtsträgereigenschaft des Untergebenen (+)
- Verleiten (+)
- Vorsatz (+)
- Problem: Rechtswidrigkeit (wie vor)
- Problem: Schuld (wie vor)
- Ergebnis (+)