Sachverhalt
Am 21. April 2016 verstarb die schwer misshandelte 41-jährige Susanne aufgrund stumpfer Gewalteinwirkungen gegen den Kopf in einem Krankenhaus in Südniedersachsen. Ins Visier der Ermittler gerieten schnell der zum damaligen Zeitpunkt 46-jährige Wilfried W. und seine 47-jährige Ex-Frau Angelika W., mit denen Susanne seit längerer Zeit gemeinsam in einem Haus im nordrhein-westfälischen Höxter-Bosseborn gelebt hatte.
Die 40-köpfige Mordkommission „Bosseborn“ musste feststellen, dass die Frau nicht das einzige Opfer von Wilfried und Angelika W. war. Insgesamt soll das ungleiche Paar mindestens vier Frauen in ihr Haus gelockt, misshandelt und gedemütigt haben, wobei eine der Frauen durch einen „Sturz“ ebenfalls verstorben sei. Die Leiche der damals 33-jährigen Annika, die Wilfried W. im Herbst 2013 sogar geheiratet hatte und die vor ihrem Tod gefesselt in der Badewanne schlafen musste, soll von Wilfried und Angelika W. erst eingefroren, dann zerteilt und schließlich im Kamin verbrannt worden sein. Einer anderen Frau soll dagegen erst nach über 8 Monaten Gefangenschaft und unzähligen Misshandlungen die Flucht aus dem „Horrorhaus von Höxter” und den Fängen des Paares geglückt sein.
Die Staatsanwaltschaft Paderborn erhob gegen das Paar am 21. September 2016 Anklage wegen Mordes durch Unterlassen in zwei Fällen sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in mehreren Fällen zum Landgericht Paderborn und beantragte für beide eine lebenslange Freiheitsstrafe sowie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Der Prozess wurde von einem enormen Medieninteresse begleitet.
Entscheidung
Das Landgericht Paderborn folgte den Anträgen der Staatsanwaltschaft nicht. Mit Urteil vom 5. Oktober 2018 (Az. 1 Ks 53/16) verurteilte die 1. Schwurgerichtskammer Wilfried W. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von lediglich 11 Jahren und ordnete dessen Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik an. Angelika W. erhielt eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren.
Zur Begründung führte die Kammer im Wesentlichen aus, dass Wilfried W. zwar u.a. schuldig sei des versuchten Mordes durch Unterlassen an Annika sowie des Mordes durch Unterlassen an Susanne. Allerdings sei er aufgrund seines besonders niedrigen IQ von 59 juristisch als „schwachsinnig“ und damit als vermindert schuldfähig nach § 21 StGB anzusehen. Ausweislich des Gutachtens der Sachverständigen S. sei seine Weltsicht vergleichbar mit der eines Schulkindes. Er suche ständige die große Liebe, ohne überhaupt zu wissen, was das eigentlich sei. Schuld oder gar Verantwortung seien ihm nicht beizubringen. Für den tödlichen „Sturz“ von Annika sei eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren tat- und schuldangemessen, für den Tod von Susanne eine Freiheitsstrafe von 7 Jahren.
Angelika W. sei schuldig wegen versuchten Mordes und versuchten Mordes durch Unterlassen an Annika sowie wegen Mordes durch Unterlassen an Susanne. Nach dem Gutachten der Sachverständigen S. sei Angelika W. zwar extrem herrsch- und machtsüchtig und könne kein Mitleid empfinden. Allerdings habe sie im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen und vor Gericht eine derart „umfassende Aufklärungshilfe“ geleistet, dass die jeweiligen Strafrahmen zusätzlich nach § 46b Abs. 1 S. 1 StGB zu mildern seien. Für den Versuch, Annika in der Badewanne zu ertränken, sei eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren tat- und schuldangemessen, für ihren tödlichen „Sturz“ eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren und für den Tod von Susanne sei schließlich eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren angemessen.
Weder Wilfried und Angelika W., noch die Staatsanwaltschaft Paderborn legten gegen das Urteil Revision ein, sodass dieses rechtskräftig wurde.
Anmerkungen
Der Prozess zum „Horrorhaus von Höxter“ schlägt bis heute hohe Wellen, insbesondere aufgrund des von vielen Seiten als viel zu Milde empfundenen Urteils. Denn das Paar ist nicht nur äußerst perfide, sondern auch besonders brutal vorgegangen: die meist „psychisch labilen“ Frauen mit wenigen sozialen Kontakten wurden gezielt ausgesucht und sodann physisch und psychisch auf unvorstellbare Weise misshandelt und gedemütigt. Vor diesem Hintergrund sind die Strafzumessungserwägungen der 1. Schwurgerichtskammer nur schwer nachvollziehbar.
Dass es sich bei dem Gutachten zu Wilfried W. um eine krasse Fehleinschätzung handelte, zeigte sich recht schnell während seines Aufenthalts im Maßregelvollzug. Zwei neue Gutachter beschrieben Wilfried W. nun als “gefühlskalt” und “manipulativ”. Er verfüge über eine “hohe kriminelle Intelligenz bei der Ausnutzung von Frauen”. Die Staatsanwaltschaft Paderborn beantragte daraufhin die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, die das Landgericht Paderborn mit Urteil vom 23. November 2023 dann auch anordnete.
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Lösungsskizze
A. Versuchter Mord durch Unterlassen an Annika, §§ 211, 13, 22, 23, 25 II StGB
- Vorprüfung
- Keine Vollendung aus rechtlichen Gründen (+)
- Tatbestand
- Tatentschluss
- Gemeinschaftliche Tötung eines Menschen, §§ 212, 25 II StGB (+)
- Durch kausales Unterlassen infolge Ingerenz, § 13 StGB (+)
- Problem: Mordmerkmale, § 211 StGB (laut LG Paderborn nur Verdeckungsabsicht, keine Grausamkeit und/oder niedere Beweggründe, str.)
- Unmittelbares Ansetzen (+)
- Rechtswidrigkeit (+)
- Problem: Schuld
- Zweifache Milderung wegen Versuchs- und Unterlassensstrafbarkeit, §§ 13, 23, 49 StGB (+)
- Dritte Milderung bei Wilfried W. wegen geringem IQ, §§ 21, 49 StGB
- Dritte Milderung bei Angelika W. wegen Aufklärungshilfe, §§ 46b, 49 StGB
- Kein Rücktritt, § 24 StGB (+)
- Ergebnis: Wilfried W. 5 Jahre, Angelika W. 6 Jahre (str.)
B. Mord durch Unterlassen an Susanne, §§ 221, 13, 25 II StGB
- Tatbestand
- Gemeinschaftliche Tötung eines Menschen, §§ 212, 25 II StGB (+)
- Durch kausales Unterlassen infolge Ingerenz, § 13 StGB (+)
- Problem: Mordmerkmale, § 211 StGB (laut LG Paderborn nur Verdeckungsabsicht, keine Grausamkeit und/oder niedere Beweggründe, str.)
- Vorsatz (+)
- Rechtswidrigkeit (+)
- Problem: Schuld
- Milderung wegen Unterlassensstrafbarkeit, §§ 13, 49 StGB (+)
- Zweite Milderung bei Wilfried W. wegen geringem IQ, §§ 21, 49 StGB
- Zweite Milderung bei Angelika W. wegen Aufklärungshilfe, §§ 46b, 49 StGB
- Ergebnis: Wilfried W. 7 Jahre, Angelika W. 8 Jahre (str.)