Sachverhalt
Der 61-jährige Kläger war seit vielen Jahren als OP-Pfleger in einem bayerischen Krankenhaus der Beklagten beschäftigt. In der Zeit vom 12. bis 27. Juni 2009 hatte er Erholungsurlaub und hielt sich im Ausland auf. Nach seiner Rückkehr fand er am letzten Urlaubstag zwei Kündigungsschreiben im Briefkasten: das eine war datiert auf den 25. Juni 2009 und das andere auf den 26. Juni 2009. Im ersten Kündigungsschreiben erklärte die Beklagte die außerordentliche Kündigung wegen angeblichen “Arbeitszeitbetrugs”. Im zweiten Schreiben erklärte sie ebenfalls die außerordentliche Kündigung, dieses Mal jedoch mit der Begründung, dass der Kläger an seinem ersten Urlaubstag der Arbeit unentschuldigt ferngeblieben sei, um seinen Flug ins Ausland vorzeitig antreten zu können.
Am 9. Juli 2009 erhob der Kläger zur Niederschrift bei der Rechtsantragsstelle des Arbeitsgerichts Regensburg Kündigungsschutzklage gegen die zweite Kündigung. Das erste Kündigungsschreiben erwähnte er nicht. Erst am 17. Juli 2009 ging der nunmehr durch einen Rechtsanwalt vertretene Kläger auch gegen die erste Kündigung vor und erhob gegen diese ebenfalls Kündigungsschutzklage.
Die Behauptung der Beklagten, wonach beide Kündigungen jeweils noch am Tag ihres Ausspruchs in den Briefkasten des Klägers eingeworfen worden seien sollen, bestritt dieser mit Nichtwissen. Darüber hinaus vertrat er die Auffassung, dass die Klagefrist erst mit seiner tatsächlichen Kenntnisnahme am letzten Urlaubstag zu laufen begonnen habe. Wenn das Gericht eine andere Auffassung vertrete, sei seine Kündigungsschutzklage gegen die erste Kündigung nachträglich zuzulassen. Im Übrigen habe er auch annehmen dürfen, dass seine bei der Rechtsantragsstelle erhobene Klage beide Kündigungen erfasse.
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Entscheidung
Das Arbeitsgericht Regensburg hat die Kündigungsschutzklage gegen die erste Kündigung nach Vernehmung des Personalleiters der Beklagten für verspätet erachtet und den Antrag auf eine nachträgliche Zulassung mit Zwischenurteil vom 24. November 2009 (Az. 1 Ca 2124/09) zurückgewiesen.
Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht München stellte mit Urteil vom 2. Februar 2011 (Az. 11 Sa 17/10) fest, dass das Zwischenurteil des Arbeitsgerichts rechtlich zutreffend gewesen sei. Der Personalleiter der Beklagten habe bei seiner erneuten Vernehmung glaubhaft bekundet, dass er das erste Kündigungsschreiben vom 25. Juni 2009 noch am selben Tag gegen 13:00 Uhr in den Briefkasten des Klägers eingeworfen habe. Damit sei die Kündigung an diesem Tag rechtswirksam zugegangen und die hiergegen erst am 17. Juli 2009 erhobene Kündigungsschutzklage verspätet, da sie nicht innerhalb der Drei-Wochen-Frist gemäß § 4 KSchG erhoben worden sei. Gründe für eine nachträgliche Zulassung lägen ebenfalls nicht vor. Insbesondere habe er vor der Rechtsantragsstelle die erste Kündigung gar nicht erwähnt, sodass diese auch nicht mit erfasst sein könne.
Die gegen das Berufungsurteil gerichtete Revision des Klägers wies das Bundesarbeitsgericht schließlich mit Urteil vom 22. März 2012 (Az. 2 AZR 224/11; NZA 2012, 1320) zurück. Zur Begründung machte der 2. Senat zunächst allgemeine Ausführungen zu dem Zugang von Willenserkärungen.
Nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB gelte eine verkörperte Willenserklärung als zugegangen, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt sei und für diesen unter gewöhnlichen Umständen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestehe. Zum Bereich des Empfängers würden auch die von ihm bereitgestellten Empfangseinrichtungen zählen, wie etwa ein Briefkasten. Wenn der Empfänger durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere Umstände an der Möglichkeit der Kenntnisnahme gehindert sei, müsse er die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme treffen. Wenn er dies unterlasse, werde der Zugang durch solche – allein in seiner Person liegende – Gründe nicht ausgeschlossen.
Es bestehe auch keine rechtliche Notwendigkeit, den Urlauben von Arbeitnehmern in der Rechtsbeziehung zu ihren Arbeitgebern eine zugangshemmende Wirkung zukommen zu lassen. Zum einen sei dies im sonstigen Rechtsverkehr auch nicht der Fall. Zum anderen müsse es den Arbeitgebern möglich sein, den Zugang von Kündigungen auch während einer urlaubsbedingten Abwesenheit ihrer Arbeitnehmer rechtswirksam bewirken zu können, insbesondere um etwaige Erklärungsfristen wie z.B. nach § 626 Abs. 2 BGB wahren zu können. Wenn ein Arbeitnehmer infolge von Urlaubsabwesenheit unverschuldet an einer rechtzeitigen Klageerhebung nach § 4 KSchG gehindert sei, könne er die nachträgliche Zulassung seiner Klage gemäß § 5 KSchG beantragen.
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Anmerkungen
Der Zugang von Willenserklärungen ist klassisches Zivilrecht und spielt aufgrund der Normierung im Allgemeinen Teil des BGB auch im Arbeitsrecht eine herausragende Rolle. Das Bundesarbeitsgericht hat im vorliegenden Fall die vorherigen Instanzen bestätigt, wonach die urlaubsbedingte Abwesenheit von Arbeitnehmern dem Zugang einer Kündigung grundsätzlich nicht entgegensteht. Darüber kann man in der Sache trefflich streiten, insbesondere da Arbeitsrecht in Deutschland nicht zu Unrecht als “Arbeitnehmerschutzrecht” gilt.
Im 1. und 2. Examen ist das Arbeitsrecht jedenfalls längst kein Randgebiet mehr, sondern wird regelmäßig abgeprüft. Daher sollte man hier nicht “auf Lücke” setzen, sondern zumindest die Grundlagen des Arbeitsrechts kennen und verinnerlicht haben. Mit dem Crashkurs Arbeitsrecht kannst Du genau dies tun und binnen von nur 2,5 Stunden alles zum Individualarbeitsrecht lernen, was Du mit Blick auf Dein bevorstehendes Examen unbedingt wissen solltest.
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Lösungsskizze
A. Zulässigkeit der Kündigungsschutzklage
- Rechtsweg, § 2 Abs. 1 Nr. 3b ArbGG (+)
- Örtliche Zuständigkeit, § 48 ArbGG (+)
- Statthaftigkeit, § 4 KSchG (+)
- Feststellungsinteresse, § 46 II ArbGG (+)
- Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit (+)
B. Begründetheit der Kündigungsschutzklage
- Wirksames Arbeitsverhältnis (+)
- Formgerechte Kündigungserklärung, § 623 BGB (+)
- Anhörung des Betriebsrats, § 102 BetrVG (+)
- Problem: Fristgerechte Kündigungsschutzklage, §§ 4, 5, 7, 13 KSchG
- Zugang der Kündigung trotz urlaubsbedingter Abwesenheit (str., +)
- Drei-Wochen-Frist gem. § 4 S. 1 KSchG abgelaufen (-)
- Gründe für nachträgliche Zulassung gem. § 5 KSchG (-)
- Ergebnis (-)