Sachverhalt
Erich Lüth war Ende der 1940er Jahre Leiter der staatlichen Pressestelle der Hansestadt Hamburg und Vorsitzender des Hamburger Presseklubs. Zu dieser Zeit erschien der Film „Unsterbliche Geliebte“ des Regisseurs Veit Harlan, der während des Dritten Reiches den NS-Propagandafilm „Jud Süß“ gedreht hatte. Lüth hielt Harlan aufgrund seiner Vergangenheit für vollkommen ungeeignet, um den Ruf des Deutschen Films wiederherzustellen, insbesondere im Ausland. Deshalb kritisierte er Harlan bei der Eröffnung der „Woche des Deutschen Films“ am 20. September 1950 ungewöhnlich scharf. Als eine der Filmproduktionsfirmen Lüth daraufhin zu einer Klarstellung aufforderte, legte dieser in einem offenen Brief nach. Harlan sei der „Nazifilm-Regisseur-Nr. 1“ und es sei das Recht und die Pflicht eines jeden anständigen Deutschen, den Film „Unsterbliche Geliebte“ zu boykottieren.
Daraufhin erwirkten die beiden Filmgesellschaften Domnick-Film-Produktion GmbH und Herzog-Film GmbH vor dem Landgericht Hamburg zunächst eine einstweilige Verfügung und am 22. November 1951 in der Hauptsache ein Urteil gegen Lüth. Darin wurde ihm aufgegeben, es zu unterlassen, die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den Film „Unsterbliche Geliebte“ nicht in ihr Programm aufzunehmen und das deutsche Publikum aufzufordern, den Film nicht zu besuchen.
Die Kammer sah in dem Boykott-Aufruf eine sittenwidrige Boykott-Aufforderung und eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung gemäß § 826 BGB. Harlan sei wegen seiner Beteiligung an dem Film „Jud Süß“ in einem gesonderten Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden und unterliege auch keinem Berufsverbot. Lüth würde mit seinem Aufruf die Rückkehr von Harlan ins Filmgeschäft unmöglich machen und dadurch auch den klagenden Filmgesellschaften einen drohenden empfindlichen Vermögensschaden zufügen.
Gegen das Urteil erhob Lüth Verfassungsbeschwerde mit der Begründung, dass die Entscheidung sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gem. Art. 5 Abs. 1 GG verletze. Das Landgericht habe seine Äußerung inhaltlich geprüft, obwohl nur eine rechtliche Prüfung zulässig sei. Die Regelungen des BGB könnten die Meinungsfreiheit auch gar nicht einschränken, da diese vorrangig sei.
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Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und ihr mit Urteil vom 15. Januar 1958 (Az. 1 BvR 400/51; BVerfGE 7, 198) stattgegeben.
Zunächst stellte der Erste Senat klar, dass die Grundrechte zwar in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat seien. Allerdings würden diese auch eine objektive Werteordnung verkörpern, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelte und gemäß Art. 1 Abs. 3 GG alle drei Gewalten binde. Im bürgerlichen Recht würden die Grundrechte somit zumindest mittelbar wirken („mittelbare Drittwirkung“) mit der Folge, dass die Richter diese insbesondere im Rahmen von Generalklauseln wie den §§ 138, 242 BGB berücksichtigen müssten (sog. Einbruchstellen).
Der Boykott-Aufruf von Lüth stelle eine Meinungsäußerung dar und unterfalle dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG dar. Ein Eingriff sei somit nur aufgrund eines „allgemeinen Gesetzes“ gemäß Art. 5 Abs. 2 GG zulässig. Zwar sei das BGB ein solch allgemeines Gesetz, da es sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richte, sondern dem Schutz von Rechtsgütern und Gemeinschaftswerten diene („Kombinationslehre“). Allerdings müsse im Rahmen der stets vorzunehmenden Einzelfallprüfung berücksichtigt werden, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt sei und konstituierend für die freiheitlich demokratische Grundordnung („Wechselwirkungslehre“).
Lüths Boykott-Aufruf müsste im Kontext seiner (kultur-)politischen Bestrebungen gesehen werden, den Ruf des Deutschen Films wiederherzustellen. Durch die Rückkehr von Harlan habe er befürchtet, dass dies vor allem im Ausland so verstanden werden könne, dass sich die Deutschen weder in ihrer Kultur, noch in ihrem Gedankengut von der NS-Zeit abgewandt hätten. Lüth habe nur an das Verantwortungsbewusstsein und die sittliche Haltung appelliert. Die Entscheidung, seinem Boykott-Aufruf zu folgen, sei jedem Einzelnen frei überlassen gewesen. Da das Landgericht Hamburg all diese Aspekte nicht berücksichtigt habe, verletze das Urteil die Meinungsfreiheit von Lüth und sei daher verfassungswidrig und nichtig.
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Anmerkungen
Das Lüth-Urteil ist ein absoluter Klassiker des Öffentlichen Rechts und zählt bis heute zu den wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Der Erste Senat hat erstmals die Grundrechte als objektive Werteentscheidung des Verfassungsgebers gewürdigt und ihnen nicht nur eine mittelbare Drittwirkung für alle Rechtsbereiche zuerkannt, sondern auch festgestellt, dass alle drei Staatsgewalten hieran gebunden sind. Zudem hat der Senat die Bedeutung der Meinungsfreiheit hervorgehoben und mit der „Kombinations- und Wechselwirkungslehre“ zwei neue Theorien etabliert. Um eine Klausur mit Grundrechtsbezug erfolgreich zu bestehen ist es zwingend erforderlich, all diese Punkte zu verstehen.
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Lösungsskizze
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
- Zuständigkeit (+)
- Beschwerdeberechtigung (+)
- Problem: Beschwerdegegenstand (+)
- Auch Zivilrechts-Urteile sind tauglicher Beschwerdegegenstand, Art. 1 Abs. 3 GG (+)
- Beschwerdebefugnis (+)
- Form und Frist
- Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
- Nach § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG ausnahmsweise nicht erforderlich (+)
- Ergebnis (+)
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
- Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (+)
- Eingriff (+)
- Problem: Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
- Generelle Einschränkbarkeit („Schranke“), Art. 5 Abs. 2 GG
- BGB ist allgemeines Gesetz (“Kombinationslehre”) (+)
- Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes (Urteil des LG Hamburg)
- Bedeutung der Meinungsfreiheit wurde verkannt (“Wechselwirkungslehre”) (-)
- Ergebnis (+)