Sachverhalt
Der Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“ wurde erstmals im Jahr 1906 in kleiner Auflage von 1000 Exemplaren in Wien (Österreich) anonym publiziert. Die Autorenschaft ist bis heute ungeklärt. Der Roman beschreibt die sexuellen Erlebnisse aus der Kindheit von Josefine Mutzenbacher, einer angeblichen Wiener Prostituierten. Aufgrund der detaillierten Schilderungen und dem kindlichen Alter der Protagonistin ist der Roman äußerst umstritten und wird wahlweise als „Meisterwerk der erotischen Literatur“ oder als „Verherrlichung von sexuellem Kindesmissbrauch“ angesehen.
Als der Roman in den Jahren 1965 und 1969 von zwei Verlegern in Deutschland publiziert wurde, setzte die damalige Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heute Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz) beide Ausgaben auf die sog. Liste jugendgefährdender Schriften („Index“). Damit durften diese nur noch an Erwachsene abgegeben werden und es bestand ein umfassendes Werbeverbot (§§ 3 ff. GjS, heute § 15 JuSchG). Im Jahr 1978 veröffentlichte der Rowohlt Verlag eine Taschenbuchausgabe des Romans und beantragte zugleich bei der Bundesprüfstelle die Listenstreichung der beiden früheren Ausgaben mit der Begründung, dass der Roman ein literarisches Kunstwerk sei.
Die Bundesprüfstelle lehnt die Listenstreichung ab und nahm stattdessen die Taschenausgabe wegen Inhaltsgleichheit ebenfalls mit auf den Index. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Roman schwer jugendgefährdend sei, weil er unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge die sexuellen Vorgänge um die Titelheldin in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund stelle. Kinderprostitution und Promiskuität würden positiv beurteilt und darüber hinaus sogar verharmlost und verherrlicht. Der Roman sei auch kein Kunstwerk, sondern vielmehr eine “pornographische Stellensammlung” und “Strichliste” über die sexuellen Aktivitäten der Titelheldin.
Der Rowohlt Verlag erhob daraufhin Klage zum Verwaltungsgericht Köln und beantragte, die Bundesprüfstelle zur Listenstreichung zu verpflichten und die Indexierung ihres Taschenbuchs aufzuheben (Verpflichtungs- und Anfechtungsklage).
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Entscheidung
Das Verwaltungsgericht Köln wies die Klage mit Urteil vom 18. Oktober 1983 ab, da die Entscheidungen der Bundesprüfstelle rechtlich nicht zu beanstanden seien.
Die Berufung zum Oberverwaltungsgericht Münster blieb ohne Erfolg. Der Senat stellte mit Urteil vom 4. Juni 1985 fest, dass der Roman zwar als Kunstwerk anzusehen sei. Allerdings werde die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet, sondern durch andere Grundwerte von Verfassungsrang beschränkt, etwa durch die Belange des Jugendschutzes. Da der Roman zweifelsfrei schwer jugendgefährdend sei, müsse die Kunstfreiheit insofern zurücktreten.
Nachdem auch die dagegen gerichtete Revision zum Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 3. März 1987 zurückgewiesen wurde, erhob der Rowohlt Verlag Verfassungsbeschwerde.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts gab dieser mit Beschluss vom 27. November 1990 statt (Az. 1 BVR 402/87; BVerfGE 83, 130) und hob die vorangegangenen Entscheidungen auf. Zur Begründung führt der Erste Senat zunächst aus, dass auch ein pornographischer Roman als Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG anzusehen sein könne. Zwar schließe die vorbehaltlose Gewährleistung der Kunstfreiheit eine Indizierung aus Gründen des Jugendschutzes nicht grundsätzlich aus. Allerdings verbiete es sich, einem der beiden Rechtsgüter von vorneherein Vorrang gegenüber dem anderen zu geben. Es müsse vielmehr stets eine Einzelfallprüfung und Abwägung der wiederstreitenden Interessen vorgenommen werden. Miteinander konkurrierende und kollidierende Grundrechte müssten in einen schonenden Ausgleich praktischer Konkordanz gebracht werden. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben hätten die Vorinstanzen nicht hinreichend beachtet, weshalb die Entscheidungen aufzuheben seien.
Die Bundesprüfstelle prüfte den Roman daraufhin erneut und setzte ihn im Jahr 1992 wieder auf den Index. Im November 2017 wurde der Roman jedoch nach erneuter Prüfung überraschend von der Liste der jugendgefährdenden Medien gestrichen und seitdem von mehreren Verlagen in Deutschland publiziert.
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Anmerkungen
Der Roman „Josefine Mutzenbacher“ sorgt auch noch heute, mehr als 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, für kontroverse Diskussionen. Die „Mutzenbacher“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ein absoluter Klassiker des Öffentlichen Rechts und juristisch vor allem deshalb interessant, weil der Erste Senat die sehr weite Interpretation des Kunstbegriffs fortgeführt hat und ausführlich auf das Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz eingegangen ist. Dabei hat das Gericht den Fokus auf eine gerechte Abwägung im Wege praktischer Konkordanz und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gelegt. Dies sollte in einer guten Grundrechtsklausur nicht anders sein.
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Lösungsskizze
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
- Zuständigkeit (+)
- Beschwerdeberechtigung (+)
- Beschwerdegegenstand (+)
- Beschwerdebefugnis (+)
- Form und Frist (+)
- Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität (+)
- Ergebnis (+)
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
- Problem: Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
- Auch ein pornographischer Roman kann Kunst sein (+)
- Eingriff (+)
- Problem: Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
- Generelle Einschränkbarkeit („Schranke“)
- Verfassungsimmanente Schranken wie Jugendschutz (+)
- Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes (Urteil des BVerwG)
- Keine angemessene Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz (-)
- Ergebnis (+)