Sachverhalt
“Reiten im Walde” klingt nach einem romantischen Filmtitel, ist aber eine bedeutende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG.
R war Eigentümer mehrerer Reitpferde, begeisterter Freizeitreiter und Vorsitzender einer Reitervereinigung in Aachen. Anfang 1975 trat das Landschaftsgesetz NRW in Kraft (im Folgenden “LG 1975”). Nach § 36 I 1 LG 1975 war das Reiten zum Zwecke der Erholung auf Straßen und Wegen in der freien Landschaft und im Walde grundsätzlich erlaubt. Die betroffenen Grundstückseigentümer hatten allerdings nach § 38 I LG 1975 die Möglichkeit, ihre privaten Straßen und Wege mit vorheriger Genehmigung der unteren Landschaftsbehörde für das Reiten zu sperren. Als zwei Grundstückseigentümer hiervon Gebrauch machten und die zuständige Landschaftsbehörde die beantragten Sperrungen genehmigte, ging R gerichtlich dagegen vor.
Das Verwaltungsgericht Aachen wies seine beiden Anfechtungsklagen jedoch mit Urteilen vom 15. Januar 1980 (Az. 5 K 436/79; 5 K 1809/79) als unzulässig ab. R fehle bereits die Klagebefugnis, da er nicht geltend gemacht habe, dass er durch die erteilten Sperrgenehmigungen in eigenen subjektiven Rechten verletzt sei. Denn die grundsätzliche Reiterlaubnis nach § 36 I 1 LG 1975 verschaffe einem hiervon begünstigten Dritten wie R keinen rechtlichen Besitzstand in dem Sinne, dass er gegen eine Sperrung vorgehen könne.
Nachdem R gegen die Urteile Berufung eingelegt hatte, verschärfte der Landesgesetzgeber das Landschaftsgesetz im Jahr 1980 dergestalt, dass das Reiten nach § 50 II 1 Landschaftsgesetz NRW (im Folgenden “LG 1980”) nur noch auf als Reitwege gekennzeichneten privaten Straßen und Wegen erlaubt war. R erklärte daraufhin die Verwaltungsrechtsstreits hinsichtlich der erstinstanzlichen Anfechtungsbegehren in der Hauptsache für erledigt. Stattdessen beantragte er die Feststellung, dass er die betreffenden Wege als Reiter benutzen dürfe. Hilfsweise sollte die Stadt Aachen zur Ausschilderung eines Reitwegenetzes verpflichtet werden.
Zur Begründung führte R im Wesentlichen an, dass § 50 LG 1980 mit höherrangigen Recht unvereinbar sei. Denn nach § 14 Bundeswaldgesetz (im Folgenden “BWaldG”) sei das Reiten im Walde grundsätzlich erlaubt. Ein generelles Reitverbot wie in § 50 LG 1980 sei zudem weder erforderlich noch verhältnismäßig. Vielmehr werde er dadurch u.a. in seiner Allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG verletzt.
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Entscheidung
Das Oberverwaltungsgericht Münster wies die Berufungen mit Urteilen vom 29. Juni 1984 (Az. 9 A 455/80; 9 A 675/80) zurück. Zur Begründung führte der 9. Senat aus, dass die Feststellungsanträge unbegründet seien. R habe kein Recht, die streitgegenständlichen und nicht nach § 50 II 1 LG 1980 als Reitwege gekennzeichneten Privatwege der anderen Grundstückseigentümer als Reiter zu benutzen. Die Vorschrift sei auch nicht mit § 14 BWaldG unvereinbar, da diese ausweislich § 5 BWaldG nur eine Rahmenvorschrift sei. Der Hilfsantrag sei eine unzulässige Klageänderung.
Die hiergegen gerichteten Revisionen von R blieben ohne Erfolg. Der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts stellte mit Urteil vom 31. Mai 1985 (Az. 4 C 14/82; 4 C 15/82; BVerwGE 71, 324) unmissverständlich klar, dass die grundsätzliche Reiterlaubnis nach § 14 BWaldG lediglich eine rahmengesetzliche Bestimmung zur Ausfüllung durch den Landesgesetzgeber sei. Die Entscheidung des nordrhein-westfälischen Landgesetzgebers, das Reiten im Walde nach § 50 II 1 LG 1980 nur noch auf entsprechend gekennzeichneten Reitwegen zu erlauben, sei daher rechtlich nicht zu beanstanden. Von einem generellen Reitverbot könne somit auch keine Rede sein.
Die von R erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 6. Juni 1989 (Az. BvR 921/85; BVerfGE 80, 137) zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Erste Senat aus, dass R durch die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Münster und des Bundesverwaltungsgerichts nicht in seiner Allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt sei. Art. 2 I GG schütze nach ständiger Rechtsprechung jede Form menschlichen Handelns im umfassenden Sinne. Allerdings sei nur der Kernbereich privater Lebensgestaltung absolut geschützt. Im Übrigen unterliege die Allgemeine Handlungsfreiheit der Schranke von Art. 2 I Hs. 2 GG und damit insbesondere dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung.
Das Reiten als Betätigungsform menschlichen Handelns falle zwar in den Schutzbereich von Art. 2 I GG. Es gehöre aber nicht zum absolut geschützten Kernbereich und könne damit eingeschränkt werden, was vorliegend durch § 50 II 1 LG 1980 erfolgt sei. Die Vorschrift sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein formeller Verstoß gegen Art. 31 GG (“Bundesrecht bricht Landesrecht”) liege nicht vor, da es sich bei § 14 BWaldG nur um eine Rahmenvorschrift handele. In materieller Hinsicht erweise sich die Trennung von Reitern und anderen Erholungssuchenden zur Vermeidung von Gefahren durch die Ausweisung von gekennzeichneten Reitwegen in § 50 II 1 LG 1980 als verhältnismäßig, insbesondere da das Reiten im Walde nicht generell verboten sei.
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Anmerkungen
“Reiten im Walde” ist eine wichtige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Der Erste Senat hat zunächst klargestellt, dass das Bundesverfassungsgericht selbst überprüfen kann, ob Landesrecht mit Bundesrecht vereinbar ist, um eine endgültige Entscheidung hierüber zu treffen und Rechtssicherheit herbeizuführen. Außerdem hat der Erste Senat erneut die Bedeutung und Reichweite der Allgemeinen Handlungsfreiheit hervorgehoben (“jede Form menschlichen Handelns”).
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